Thursday, July 02, 2009
Autobiografie-german
Youssef Alikhani: Eine Autobiografie
Ich schwelgte noch in der Süße meiner Kindheit, als die Revolution ohne Gewalt und auf leisen Sohlen in unserem Dorf Einzug hielt - einem der Dörfer des historischen Deylamestan, des heutigen Alamoot.
Meinen Vater sah ich zweimal im Jahr: einmal im Frühling zum Neujahrsfest und das andere Mal im September zur Erntezeit, wenn die Haselnüsse unseres einzigen Gartens reif wurden. Den Rest des Jahres arbeitete er in der nächstgelegenen Stadt Qazvin; so hatten wir keinen Vater.

Ich wurde nicht in unserem Haus geboren, wo meine sechs Brüder und die einzige Schwester zur Welt gekommen sind. Ich betrat die Erde unseres Dorfes und erblickte das Licht der Welt in einem Haus, in dem mein Vater arbeitete. Der Hausherr war ein Onkel von mir, ein Geistlicher, der seit einigen Jahren mit seiner Familie in der Stadt lebte. Mein Vater verwaltete seine Besitztümer - Haus, Äcker und Gärten - und hütete sein Vieh. Deswegen lebte er praktisch in jenem Haus in Bala-Mahalleh, der Dorfgegend, die den besser situierten Bauern vorbehalten war.
Ich hatte noch nicht begriffen, warum wir so viele Gärten und Äcker und Rinder und Schafe hatten und trotzdem so arm waren, als mein Vater in die Stadt zog, um dort Arbeit zu finden.

Ich höre oft, dass meine Erzählungen sehr weiblich sind, und dass Frauen eine wesentliche Rolle in meinen Geschichten spielen. Und wenn ich zurückdenke, sehe ich den Grund dafür darin, dass in Abwesenheit meines Vaters die Frauen im Haus - meine Mutter, die Tanten und meine Großmutter - unser Ein und Alles waren und das Sagen hatten. Wir Jungen wuchsen in einer von Frauen dominierten Umgebung auf und lernten, dass Einsamkeit eine schwere Last sein kann.
Dann wurde in einem vorgetäuschten Familienstreit der Weizen meines Vaters, der Ertrag eines Arbeitsjahrs, angezündet, und wir haben nie herausgefunden, wer den Brand gelegt hatte. Da fasste mein zorniger Vater einen endgültigen Entschluss und nahm die ganze Familie in die Stadt mit. Und wir wurden zu Einwanderern in einer Stadt, deren Straßen, Gassen und Wohnungen uns zu eng waren.

Ab der dritten Klasse besuchte ich in Qazvin die Schule. Und von Anfang an musste ich dafür, dass ich kleine Theaterstücke schrieb oder mit meinen Freunden Bücher kaufte und las, Prügel einstecken.

Von Samstag bis Donnerstag gab mir mein Vater täglich drei Tooman Taschengeld.
Freitags gab es keines; da nahm er uns mit ins öffentliche Bad. Während meiner Schulzeit hatte ich also 18 Tooman Taschengeld pro Woche. Damals kostete ein Buch von Jules Verne circa 23 Tooman, und es kostete mich einige Mühe, bis ich den Buchhändler überredet hatte, dass ich den Rest später bezahlen konnte, den ich ihm aber oft schuldig blieb.
Diese Geschichte ging aber nicht gut aus. Ich hatte nämlich, ohne Wissen meines Vaters, aus Obstkisten ein Bücherregal gebastelt. Doch eines Tages kam er hinter mein Geheimnis. Er, der das Taschengeld dafür vorgesehen hatte, dass ich in der Schule nicht hungerte, trug, nachdem er mich gründlich ausgepeitscht hatte, die Bücher in den Hof, übergoss sie mit Petroleum, und ich wäre, wenn meine Mutter sich nicht eingemischt hätte, an jenem Tag Zeuge der ersten Bücherverbrennung meines Lebens geworden.

Auch später hat meine Mutter oft Streit zwischen uns schlichten müssen. Sogar als mein Vater mich von der Schule neehmen wollte, damit ich arbeiten gehe, hat sie ihn angefleht: "Sieh doch seine Hände an!", sagte sie. "Er hat Lehrerinnenhände." Aber leider habe ich ihr diesen einzigen Wunsch nicht erfüllen können und bin kein Lehrer geworden.

Mit 14 Jahren schrieb ich meine erste Kurzgeschichte, wofür ich von meinen Lehrern großes Lob erhielt. Mit 15 schrieb ich einige kleine Theaterstücke, die bei den Festlichkeiten zum Jahrestag der Revolution aufgeführt wurden.
Aufgrund dieser Arbeiten bin ich in einige örtliche Vereine für junge Künstler eingetreten: erst in den Theaterverein und später in den Verein junger Regisseure und Schriftsteller. Inzwischen versuchte ich mich auch in der Fotografie und der Malerei. Die Kamera begleitet mich immer noch, aber die Malerei habe ich nicht ernsthaft weiterverfolgt. Im letzten Gymnasiumsjahr hatte ich einen Kunstlehrer, der mich mit einer Idee ansteckte: "Lerne fleißig", sagte er, "damit du in die Teheraner Universität aufgenommen wirst." Ich weiß nicht, warum er so auf die Teheraner Universität bestanden hat. UND ich habe fleißig gelernt und habe es geschafft. Ich bestand die Aufnahmeprüfung für die Universität mit sehr gutem Erfolg.
Aber weil ich bei den damaligen Unruhen in Qazvin an einigen Demonstationen teilgenommen hatte, habe ich keine Zulassung für das Fach Rechtswissenschaften bekommmen können und habe daher stattdessen mit dem Studium der arabischen Sprache und Literatur begonnen.

Mein Interesse für die arabische Literatur wuchs immer mehr, zumal einige progressive Professoren - im Gegensatz zur gängigen Praxis - uns in die Literatur der Gegenwart einführten und für die modernen arabischen Dichter, wie Zakaria Tamer, Nagib Mahfuz, Mahmoud Darwish, Sami Alqassim und Adonis, zu begeistern wussten.

Meine ersten Kurzgeschichten wurden während meines ersten Studienjahrs (1995-1996) in einigen Wochenblättern von Qazvin veröffentlicht.

Der Wunsch, bekannte iranische Schriftsteller kennenzulernen, motivierte mich dazu, einen Weg zu gehen, der zur Publikation des Buches "Die Dritte Generation der heutigen iranischen Prosa-Autoren" geführt hat. In einer siebenjährigen Arbeit habe ich über 40 Stunden Interviews mit einigen bekannten Schriftstellern geführt, die zu jenem Zeitpunkt mehrere Werke publiziert hatten. Kein Herausgeber war jedoch bereit, diese Gespräche, die mehr als 3000 Seiten umfassten, vollständig zu veröffentlichen. Lediglich eine Auswahl dieser Gespräche wurde 2001 im Umfang von 310 Seiten veröffentlicht.

In jenen Jahren entdeckte ich verstärkt mein Interesse für die Kultur meiner Vorfahren, die aus dem historischen Deylamestan in den Bergen Alamoot und Alborz stammten. In diesem Zusammenhang lernte ich die Volkserzählung "Aziz und Negar" kennen. Diese über 450 Jahre alte Liebesgeschichte ist überall im Gebiet von Taleghan, Alamoot, Oshkoorat, Gilan und Mazandaran bekannt und hat das Liebesleben vieler der heute schon alten Männer und Frauen dieser Gegend geprägt. Nach einer langwierigen Suche habe ich fünf niedergeschriebene und 14 mündlich überlieferte Versionen dieser Geschichte in den Dörfern und Bibliotheken gefunden. Ich habe eine dieser Versionen als Grundlage genommen und davon ausgehend begonnen, Die Versionen untereinander zu vergleichen.
Das Ergebnis dieser Arbeit war das Buch "Eine Neubearbeitung der Liebesgeschichte von Aziz und Negar", das 2002 mit einem Umfang von 260 Seiten publiziert wurde. Später drehte ich einen Dokumentarfilm über einige ältere Menschen, die diese Geschichte erzählten. Dieser Film feierte bei einigen Festivals große Erfolge.

Der Wunsch, einen eigenen Erzählband herauszugeben, wurde immer stärker. Ungefähr 10 Jahre lang waren nun meine Kurzgeschichten in literarischen Wochenblättern und Zeitschriften veröffentlicht worden. Doch waren sie nicht zu einem eigenen Buch versammelt. Als ich so weit war, meinen ersten Erzählband herauszugeben, merkte ich, dass mir schon viele der Geschichten fremd geworden waren, als ob sie nicht mein Werk wären. In vielen schlaflosen Nächten und in einem langen Spiel mit Wörtern habe ich eingesehen, dass einige davon wirklich aus mir geboren waren. Das waren die Geschichten, die auf irgendeine Art und Weise etwas mit meinem Geburtsort Milak zu tun hatten.

Mein erster Erzählband, "Ghadam Bekheyr war meine Großmutter", wurde 2003 publiziert. Er wurde glücklicherweise bald von Lesern wie Literaturkritikern gleichermaßen sehr positiv aufgenommen. Er wurde in literarischen Kreisen oft besprochen und bekam gute Rezensionen. "Ghadam Bekheyr" wurde für den Preis "Das Buch des Jahres der Islamischen Republik Iran" nominiert und bekam den Hauptpreis des internationalen Festivals "Roosta".

In all diesen Jahren war und ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen - und dazu noch eine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen - das Verfassen von Biografien iranischer Persönlichkeiten. Bis dato habe ich die Biografien von vier historischen Personen für Jugendliche neu bearbeitet: die Lebensgeschichte von Ibn Batooteh (ein bekannter Reiseschriftsteller), das Leben von Saeb-i Tabrizi (Dichter), das Leben von Hassan-i Sabbah (der Herr von Alamoot und zugleich Anführer der Sekte "Die Assassinen") sowie die Biografie Nasser Khosrows (Nassir Khusraw - ein berühmter iranischer Dichter und Anhänger des ismailitischen Zweigs der schiitischen Religion).

Eine meiner Bestrebungen der letzten Jahre ist das Sammeln und Aufzeichnen von schriftlich fixierter oder mündlich überlieferter Volkskultur und -literatur. Zum Beispiel habe ich zusammen mit meinem Freund Afshin Naderi im Rahmen einer intensiven dreijährigen Arbeit 56 Dörfer im Gebiet von Alamoot besucht und mündlich tradierte Geschichten und Volksmärchen auf Tonband aufgenommen. Wir sammelten genug Stoff für zwei Bücher, die hauptsächlich Volkserzählungen und Wort-Erklärungen zum Inhalt haben. Diese Bücher konnten bis jetzt leider noch nicht publiziert werden. Diese Arbeit habe ich später allein weitergeführt und die mündlich überlieferte Volkskultur und die Volkserzählungen der Sippe Maraqian von Roodbar/Alamoot (18 Dörfer) aufgenommen und archiviert.

Einige Jahre arbeitete ich bei den Zeitungen Entekhab und Jam-e-Jam als Übersetzer aus dem Arabischen. Bei Letzterer war ich zeitweise als Literatur- bzw. Volkskulturredakteur tätig.

2002, als das Internet im Iran eingeführt wurde und langsam bei den Studenten Verbreitung fand, initiierte ich die literarische Internet-Zeitschrift "Ghabil". Diese Zeitschrift habe ich zweieinhalb Jahre herausgegeben. Das Ergebnis dieser Jahre, das Archiv von Ghabil, ist unter folgender Adresse zu finden: www.ghabil.com. Nach einer längeren Pause eröffnete ich unter dem Namen "Tadaneh" erneut eine Plattform im Internet, die inzwischen beinahe vier Jahre alt ist. Auf dieser Website (www.tadaneh.blogspot.com) stelle ich mein eigenes Werk sowie Alamoot, die Gegend meiner Geburt, und die iranische Literatur der Gegenwart vor.

Schon immer ist es mein größter Wunsch gewesen, den ganzen Iran mit eigenen Augen zu sehen. Deswegen fing ich vor drei Jahren an, ohne finanzielle Unterstützung, Reisen im ganzen Land zu unternehmen und historisch und kulturell bedeutende Lokalitäten zu besichtigen. Von diesen Reisen habe ich viele unveröffentlichte Fotos und Reiseberichte mitgebracht.

Mein zweiter Erzählband, "Ejdehakoshan" ("Die Drachentötung"), wurde 2007 publiziert. Er bekam den Literaturpreis "Djalal Al Ahmad" und fand den Weg in die Endauswahl des Literaturpreises "Hooshang Golshiri".
Die Erzählungen von "Ejdehakoshan" sind die Fortsetzung der Geschichten meines ersten Erzählbandes und sind wie diese durch die Atmosphäre meines Geburtsdorfs geprägt. Der Handlungsort der meisten Geschichten ist "Milak".

Obwohl das Dorf meiner Geschichten dasselbe ist wie das Dorf meiner Kindheit, hat es mit dem wirklichen Ort auf der Landkarte nichts gemein. Es ist vielmehr ein utopischer Raum voller Fantasie, Aberglaube und Volksmythen, bewohnt von Menschen, die man an den Fingern einer Hand abzählen kann: ein leeres, verlassenes Dorf, überschattet von den Flügeln des Todes.

Und ich hoffe, noch dieses Jahr meinen dritten Erzählband, der der Stimmung der beiden ersten Bücher treu bleiben wird, veröffentlichen zu können.

Im Moment bin ich mit der Redaktion einer literarischen Reihe betraut. Diese Sammlung umfasst eine Neubearbeitung von Geschichten und Erzählungen der klassischen persischen Literatur für die Jugend durch bekannte Autoren. Gegenwärtig liegen 30 Bände aus dieser Reihe vor. Sie werden hoffentlich noch in diesem Jahr herausgegeben.
Ich persönlich habe für diese Sammlung die Geschichten von "Tadhkirat al-auliya" von Fariduddin Attar Neyshaboori neu bearbeitet.

Ebenso bin ich zurzeit mit der Neubearbeitung der Geschichten von "Tausend und einer Nacht" für die Jugend beschäftigt und hoffe, dieser Aufgabe angemessen nachkommen zu können, denn ich habe schon einen ausführlichen Essay über dieses kolossale Werk der Weltliteratur verfasst.

Seit zehn Jahren bin ich mit Iranna Mohyeddin-Bonab verheiratet. Meine Frau, die bei Dr. Reza Baraheni studiert hat, hat mich bei meinem Werk stets unterstützt und motiviert. Sayna, unsere 7-jährige Tochter, besucht momentan das erste Schuljahr und träumt davon, eines Tages Schriftstellerin oder Geigenspielerin zu werden.

Interessanterweise habe ich erst in den letzten Jahren entdeckt, dass meine Eltern sehr gute Märchenerzähler sind, und habe schon viele von ihnen erzählte Geschichten in mein Archiv aufgenommen.
Unter uns gesagt, habe ich mehr als 30 Stunden mündlich überlieferte Volkskultur von den Menschen aus meinem Geburtsdorf Milak in meinem Archiv. Die Hälfte dieser Märchenerzähler weilt nicht mehr unter uns. Doch diese Menschen leben in meiner Bibliothek weiter.

Sonst ist die Liebe zu den Bergen und zu meinen Landsleuten die Quelle der Kraft, die mich am Leben hält, die Liebe zu den Menschen, die wie ihre Ahnen langsam dabei sind, sich in vergessene Schatten zu verwandeln, um vielleicht in einem Traum oder einer Geschichte wieder aufzuerstehen.

Youssef Alikhani
Teheran, 14. April 2009

Tadaneh: ein heiliger Baum, der in der Nähe von Pilgerstätten zu finden ist (Anm. d. Ü.).

Tadhkirat al-auliya oder Tazkirat-ol Awliya: ein Prosawerk von Fariduddin Attar Neyshaboori; er umfasst die Biografien von einigen bekannten Mystikern/Sufis, die um das 12. Jahrhundert gelebt und gewirkt haben (Anm. d. Ü.).
Dr. Reza Baraheni: ein bekannter Schriftsteller und Literaturkritiker (Anm. d. Ü.).


Translator: Shabnam Hemmatian

Labels:

youssefalikhani AT gmail DOT com